Teenager am Bildschirm – Berner Schulen kämpfen gegen Handyobsession
Smartphones werden an der Schule Munzinger in einen Schrank verbannt. Auch andernorts wird händeringend nach Lösungen gesucht.
Regina Schneeberger, Adrian Moser(Fotos)
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Die Sache mit den Handys war ausser Kontrolle geraten. Das merkte Schulleiter Giuliano Picciati eines Morgens, als er in seinem Büro sass. «Ständig machte es tsss tsss tsss», sagt er.
Die konfiszierten Mobiltelefone, die beim Pult des Schulleiters lagerten, vibrierten im Sekundentakt. Zumindest teilweise kamen die Nachrichten von jenen Schülerinnen und Schülern, die ihre Handys noch hatten. Obwohl die Mobiltelefone während des Unterrichts eigentlich tabu waren, weder sicht- noch hörbar im Rucksack oder im Spind hätten verstaut sein müssen. «Da merkten wir, dass das Suchtpotenzial für die Jugendlichen zu gross ist.»
Picciati, ein Schulleiter, wie man ihn sich vorstellt, ruhig, bestimmt, natürliche Autorität, sagt: «Wir wussten, so geht es nicht weiter.» Dann kam die Idee mit der Handygarage.
Seit gut einem Jahr parkieren die Jugendlichen an der Schule Munzinger in Bern ihre Mobiltelefone morgens in einer hölzernen Box mit zahlreichen Fächern. Die Lehrerin oder der Lehrer schliesst die Geräte im Klassenzimmer im Schrank ein, verwahrt sie hinter blickdichten Türen. Da bleiben sie bis um 12 Uhr. Nach der Mittagspause kommen sie wieder in die Garage. «Seither haben wir kaum mehr Probleme», sagt der Schulleiter.
Doch sollten die Jugendlichen nicht gerade in der Schule lernen, mit den Handys umzugehen? Picciati sagt: «Wir sprechen im Unterricht ja trotzdem über Medienkompetenz.» Ausserdem hätten alle ein Tablet, mit dem sie lernen würden, im Internet zu recherchieren.
Die Schule Munzinger ist nicht die einzige, die den Smartphones den Kampf ansagt. Auch im Stadtberner Lorraine-Schulhaus gilt seit den Sommerferien ein neues Handyregime. «Vorher war es ein Katz-und-Maus-Spiel», sagt Schulleiter Jürg Lädrach. Die Jugendlichen seien ewig auf die Toilette verschwunden oder hätten unter dem Pult getippt. Nun landen die Handys auch dort während des Unterrichts in einer Kiste.
Immer mehr Schulen im Kanton Bern überlegen sich solche oder ähnliche Lösungen. Weil es anders einfach nicht mehr geht. Das stellt Franziska Schwab vom Lehrpersonenverband Bildung Bern fest. «Die Geräte saugen die ganze Aufmerksamkeit ab», sagt sie. Dass Mobiltelefone für Kinder und Jugendliche zum Problem werden können, zeigen diverse Studien. Die möglichen Folgen eines übermässigen Konsums: Konzentrations- und Schlafstörungen, Depressionen.
Je jünger die Kinder sind, desto enger sollte der Smartphonegebrauch begleitet werden. Gemäss Florian Bühler, Forscher in der Abteilung Entwicklungspsychologie an der Universität Bern, herrscht in der Wissenschaft ein Konsens darüber, dass die meisten jungen Menschen erst ab 12 Jahren bereit sind für ein eigenes Smartphone, wie er kürzlich gegenüber dieser Zeitung sagte.
Forderung nach nationalem Verbot
Auch politisch tut sich einiges. So wurden in Basel, Solothurn oder Zug Vorstösse eingereicht, die eine Limitierung bei der Handynutzung von Kindern fordern. Bis es eine einheitliche Regelung gibt, dürfte es im dezentral organisierten Bildungswesen aber noch eine Weile dauern. So entscheiden im Kanton Bern die Schulen meist selbst. Vereinzelt machen Gemeinden Vorgaben, etwa Köniz. Dort sollen die Handys, unabhängig vom Schulkreis, während des Unterrichts lautlos und unsichtbar sein.
Eine übergeordnete Regulierung auf Kantons- oder Bundesebene würde Franziska Schwab von Bildung Bern befürworten. Beispielsweise eine Altersbeschränkung, die besagt, dass Kinder in der Unterstufe noch kein Handy dabei haben dürfen. Solange der Smartphonegebrauch nicht gesetzlich geregelt sei, sei es wichtig, dass die individuellen Lösungen der Schulen vom Kollegium und von den Eltern getragen würden. «Manche Eltern stellen sich leider auf die Hinterbeine, wenn ihre Kinder nicht ständig erreichbar sind», so Schwab.
An der Schule Munzinger gebe es von den Müttern und Vätern bislang keinen Widerstand, sagt Schulleiter Giuliano Picciati. Auch die Teenager finden die Verbannung von Tiktok, Insta und Co. gar nicht mal so schlecht. Das zeigt die Befragung einer Gruppe von 7.-Klässlern.
«Als ich das Handy noch im Hosensack hatte, war ich ständig abgelenkt», sagt ein Mädchen. Nun könne sie sich besser konzentrieren. Auch ihre Klassenkameradinnen und Klassenkameraden vermissen das Gerät meist nicht. «Manchmal vergesse ich fast, es nach der Schule mitzunehmen», sagt ein Mädchen. Einzelne würden es während der Pausen gern nutzen.
In der Freizeit ist das Handy aber ein steter Begleiter. Manche kommen auf eine Bildschirmzeit von sechs Stunden pro Tag oder mehr. Andere haben eine von den Eltern auferlegte Beschränkung. Kontrolliert wird das oftmals mit einer auf dem Gerät installierten maximalen Gebrauchszeit. Ein Mädchen darf das Handy während der Ferien drei Stunden nutzen, während der Schulzeit nur zwei. «Noch haben meine Eltern vergessen, den Ferienmodus rauszunehmen.» Gelächter.
Rote Karte beim Regelverstoss
Lehrerin Annegret Paerschke sagt: «Seit wir die Regel haben, ist die Atmosphäre viel positiver.» Die Jugendlichen könnten sich besser konzentrieren. Und sie müsse nicht ständig kontrollieren und auf Konfrontationskurs gehen. Die Lehrerin bewilligt aber auch Ausnahmen. Beispielsweise wenn eine Jugendliche sich beworben hat und auf den Anruf des Lehrbetriebs wartet.
Regelverstösse kommen nur noch selten vor. Wenn doch, gibt es beim ersten Mal eine Gelbe Karte ohne grosse Konsequenzen. Beim wiederholten Foul landet das Telefon bis Schulschluss im Büro der Schulleitung. Das Gerät muss danach für eine Woche zu Hause bleiben. Die Handys über längere Zeit einziehen, wie das früher mancherorts gehandhabt wurde, macht heute kaum noch eine Schule. Der Grund: Das private Eigentum darf ausserhalb der Unterrichtszeit nicht beschlagnahmt werden – würden sich Eltern wehren, gäbe es rechtliche Probleme.
Länger ohne Handy sind die Schülerinnen und Schüler hingegen während der Landschulwoche. Denn dort gilt in der Klasse von Annegret Paerschke: Die Mobiltelefone bleiben zu Hause. «Die Eltern sind dankbar dafür, die Jugendlichen eher nicht», so die Lehrerin. Allerdings wüssten sie im Nachhinein meist die Vorteile zu schätzen.
Aline ist Sprecherin des Schülerrats. Die 14-Jährige formuliert und argumentiert überlegt, wie es sich für ihr Amt gehört. Während sie im Unterricht problemlos auf das Smartphone verzichten kann, bereitete es ihr in der Landschulwoche mehr Mühe. «Tief im Innern weiss ich schon, dass es gut ist, wenn man das Handy nicht mitnehmen darf.» Trotzdem hätte sie manchmal gerne ihren Freundinnen oder ihrer Familie geschrieben. Aber: Sie hätten im Lager viel mehr miteinander gesprochen. Statt gechattet und gegamt hätten sie sich die Zeit mit Brettspielen vertrieben. «Der Zusammenhalt war besser.»
Punkt 10 Uhr klingelt im altehrwürdigen Schulhaus die Glocke zur grossen Pause. Die Jugendlichen strömen nach draussen. Manche sitzen unter den Bäumen beisammen, plaudern, essen Sandwichs. Eine Gruppe spielt nebenan Fussball, eine andere Basketball. Niemand starrt auf einen Bildschirm.
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Regina Schneeberger ist Redaktorin im Ressort Bern und legt ihren Fokus auf Bildungs- und Gesellschaftsthemen. Ausserdem berichtet sie aus dem Gericht. Sie hat an der ZHAW Journalismus und Kommunikation studiert.Mehr Infos
Adrian Moserarbeitet seit 2000 als Bildredaktor und Cheffotograf für den Bund und seit 2016 als Co-Leiter für den Foto-Pool Bern. Mehr Infos
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